Dienstag, 9. September 2014

Geschichten von Dienstkrisen


In diesem ersten Hauptteil erzählen die Autoren von ihrem Erleben als Hauptamtliche im Dienst von Gemeinden: Pastoren, Jugendleiter, ein ehemaliger Direktor der Vineyard-Gemeinden der USA berichten, wie sie dazu gekommen sind, die traditionelle Art von Gemeinde zu hinterfragen. Sie stellen viele gute Fragen – ob die Antworten, die sie zu geben versuchen, ebenso gut sind und zu befriedigen vermögen, werden wir noch sehen.

Spencer Burke – Vom dritten Stock in die Garage
Er war ein Pastor einer Megachurch mit 4500 erwachsenen Gottesdienstbesuchern auf dem Gelände und 10'000 Leuten, die insgesamt an den regelmäßigen Programmen teilnahmen. Burke beschreibt diese Zeit und seine Gedanken dazu folgendermaßen:
Try as I might, I'm troubled by things like the parking lot ministry. Helping well-dressed families in SUVs find the next available parking space isn't my spiritual gift. To be perfectly honest, I'm not even comfortable with some of the less sensational aspects of evangelicalism. Three-point-sermons, four-law gospel presentations and 10-step discipleship programs have never rung true to me. And yet during my seminary education, to suggest anything else was heresy. To dare question my alma mater's premillennial, pretribulation doctrinal position, for instance, was to risk expulsion at worst and public humiliation at best. So like all the other students, I bought in. I read all the right books, went to all the right conferences, and said all the right things. For years I played by the rules and tried hard not to think about the lingering questions of my soul. Doubt, after all, is dangerous. Who knows where it might lead? (S. 28)

Zwei Punkte möchte ich davon kurz aufgreifen, in denen ich Burke unbedingt zustimmen muss. Das Eine sind diese 10-Punkte-Programme (und wegen mir auch die Drei-Punkte-Predigten). Das ist nun mal einfach eine viel zu starke Vereinfachung, wenn wir versuchen, jedem unsere Programme aufzuzwingen. Auch die Anzahl der Punkte einer Predigt kann nicht von vornherein vorgeschrieben werden, sie ergibt sich aus dem Text, der ausgelegt werden soll. Eine zweite wichtige Frage betrifft den Umgang mit Zweifeln. Mir ist auch schon öfter aufgefallen, dass in der evangelikalen Welt die Zweifel per se als etwas Schlechtes betrachtet werden. Zu lange haben so viele junge Menschen versucht, ihre Zweifel zu unterdrücken, statt sich fair, kritisch und aktiv mit ihnen zu beschäftigen. Leider fallen viele Vertreter der Emerging Church auf der anderen Seite vom Pferd: Sie verlangen, dass ständig alles immer wieder erneut in Zweifel gezogen wird, sodass es überhaupt keine sichere, unbezweifelbare Grundlage mehr geben kann. Auch dieser Umgang mit Zweifeln, der das Zweifeln schon beinahe vergötzt, ist nicht gesund.

Burke hat dann seinen Job als Pastor aufgegeben und sich in eine alte Garage zurückgezogen. Dies geschah, nachdem er ein spezielles Erlebnis hatte. Er war auf einer Retraite mit Brennan Manning, der ihm sagte, er solle in dieser Zeit keine Bücher lesen – auch nicht die Bibel. In dieser Retraite hatte er eine Art der Begegnung mit Jesus, der ihn einfach festhielt und ihm half, sich verstanden zu fühlen. Dort lernte er „kontemplative Spiritualität“ kennen, woraufhin er sich von seiner Gemeinde trennte und in der Garage zu arbeiten begann. In dieser Garage hat er 1998 die Webseite mit dem Forum und dem Online-Magazin „TheOoze.com“ gegründet. Dies ist eine Art Webseite, wo sich Menschen aus allen möglichen Hintergründen, Religionen und Ideologien trafen und sich über ihre Formen der Spiritualität unterhielten. Seit 2012 ist diese Seite down – ohne eine öffentliche Begründung. 2001 hat er mit anderen Mitgliedern des Forums TheOoze ein sogenanntes „Potlatch“ durchgeführt. Das ist ein Fest, bei dem es um das Verschenken geht. Besser gesagt, es ist ein altes indianisches Ritual, das sehr eng mit dem indianischen Animismus (Glaube an Seelen, Ahnen und Geister, die einen umgeben). Nach und nach wurde Burke immer mehr zu einem Panentheisten (ein Panentheist glaubt, dass Gott in allem ist). Burke sucht also auch in fremden Religionen nach einer Begegnung mit Gott. Damit überschreitet er klar die Linie, die Jesus uns gegeben hat: Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater als nur durch mich! (Johannes 14,6). An dieser Stelle muss man sich fragen, was das für ein Jesus gewesen sein muss, der Burke damals begegnet ist. Alle diese Begegnungen – und ja, es gibt wirklich echte Jesus-Begegnungen!!! - müssen beurteilt werden nach Galater 1,8-9: Aber selbst wenn wir oder ein Engel vom Himmel euch etwas anderes als Evangelium verkündigen würden als das, was wir euch verkündigt haben, der sei verflucht! Wie wir es zuvor gesagt haben, so sage ich auch jetzt wiederum: Wenn jemand euch etwas anderes als Evangelium verkündigt als das, welches ihr empfangen habt, der sei verflucht!

Burke macht den traditionellen Gemeinden drei Vorwürfe:
1. „Geistlicher McCarthyismus“ → Damit meint Burke, dass man sich den Pastor oder andere Pastoren zu Götzen macht: „Call me crazy, but it seems like many of my church friends live on every word that proceeds from the mouths of the evangelical öeaders of the world more than on every word that proceeds from the mouth of God.“ (S. 31)
2. „Geistlicher Isolationismus“ → Damit meint Burke, dass man sich immer mehr in die Gemeinden abschottet und nichts mehr mit dem Rest der Menschen zu tun haben will – man isoliert sich.
3. „Geistlicher Darwinismus“ → Damit meint Burke, dass alles nach dem Motto läuft „größer ist besser“: „Pastoral credibility had everything to do with a big budget they had and how many worshipers came to the Sunday event.“ (S. 34)

Diese drei Dinge stelle ich in unseren Gemeinden auch immer wieder fest. Beim ersten Punkt kann ich mit Burke nicht ganz mitgehen, dass er jede Art von Hierarchie und unterschiedlicher Verantwortlichkeit in den Gemeinden anprangert, aber es ist ganz wichtig, zu sehen, dass es das Extrem recht häufig gibt, dass man versucht ist, geistliche Leiter an die Stelle zu rücken, die nur Gott allein zusteht.

Ein letzter Punkt zu Burke: Er kommt kurz auf das Thema Kunst / Kultur und Gemeinde zu sprechen. Burke war Künstler (Maler) und Pastor zugleich: „When the gallery folks found out I was a pastor, they were stunned. Likewise, my friends at church struggled to understand the arts community I belonged to. If the acquaintances I'd made in both these circles were to wind up in the same room, they wouldn't have anything to say to each other.“ (S. 33/34)

Das ist sehr schade, und ich frage mich, ob es in unseren Gemeinden auch so wäre. Gott hat die Schönheit geschaffen und uns die Kunst gegeben, um Ihn sichtbar zu machen. Ich bin dankbar, dass es hier langsam ein Umdenken in manchen Gemeinden gibt. Wir können aber noch einiges mehr tun, um echte Schönheit zu erkennen, zu würdigen und zu verbreiten.


Todd Hunter – Ins Gespräch einsteigen
Nach einer kurzen Einführung in sein Leben als Gemeindegründer und später nationaler Direktor der Vineyard USA berichtet Hunter von einem Gespräch bei einem Treffen mit jungen Leitern von Gemeinden. Dort wurden plötzlich neue Fragen gestellt: „Gibt es überhaupt Wahrheit?“ - „Wie kann man sie kennen, wenn wir Menschen doch fehlbar sind?“ - „Wie sicher können wir über die Wahrheit sein?“ - „Ist Wahrheit in sich selbst einfach gut?“

Todd hat daraus seine Schlüsse gezogen: „Your systems are perfectly suited to yield the results you are now getting.“ (S. 45) Somit verließ er das System der Vineyard-Gemeinden und machte sich auf die Suche. Dies machte ihn zu einem „Postreduktionisten“, also jemandem, der sagt: Fakten und Glaubensbekenntnisse sind gut, aber sie sind zu sehr reduziert, zu sehr zusammengestaucht, und komprimiert. Deshalb ist der Post-Reduktion-ismus die Folge dieser Entwicklung. In manchen Dingen kann ich ihm durchaus zustimmen, besonders in seiner Kritik an manchen Evangelisationsmethoden: „Salvation, as normally understood outside the context of the whole story (say-a-prayer-so-that-when-you-die-you-can-go-to-heaven), lacks the power to be compelling. The reductionist version was never right or true.“ (S. 49) Leider muss ich auch hier sagen, dass Hunter – so sehr ich ihm in dieser Aussage zustimmen muss – seine Hausaufgaben sehr schlecht gemacht hat. Natürlich ist diese Art der „Bekehrung“ verbreitet – aber sie wird nicht in ihren Kontext oder in ihre Geschichte eingebunden. Sie ist eine sehr späte Erfindung und hat den größten Teil der Kirchengeschichte gegen sich stehen.

Hunter macht daraufhin klar, dass der Postmodernismus eine bestimmte Weltanschauung ist. Er versucht, so sagt er, hinter die Weltanschauung zu kommen: „We are Christ-followers before we are a worldview.“ (S. 50) Das Unterfangen finde ich gut – allerdings zeigen die folgenden Seiten, auf denen er seine Sicht zum Thema „Was ist Wahrheit?“ darlegt, dass sein Denken ziemlich stark vom Postmodernismus geprägt ist.


Tony Jones – In Richtung eines missionales Dienstes
Sie hatten ein Konzert mit einer bekannten Band organisiert. Tony Jones war der Organisator. Er war Jugendpastor einer größeren Gemeinde. So lernte er das Showbusiness kennen: Nachdem die Band bei ihnen gespielt hat, spielte sie am nächsten Tag in derselben Stadt in einer anderen Gemeinde – für einen Fünftel der Gage, die Jones ihnen gegeben hatte. Das führte dazu, dass Jones mit Nachdenken begann. So begann er immer mehr zu hinterfragen.

Die Frage, die sich Jones jetzt hauptsächlich stellt, ist die: Wie können wir die Mission leben? Er kommt zu vier Punkten, die ihm wichtig sind:
1. Pastorale Fürsorge → Für die anderen da sein. Etwas zusammen unternehmen, zusammen reden, etc.
2. Theologische Reflektion„We're called to help our students see the events of this world, those that fill us with hope and those that fill us with despair, from this side of Easter – to view the world through an empty tomb.“ (S. 71)
3. Kontemplatives Gebet → Dabei geht es Jones vor allem um das Erleben der Stille in einer Zeit, die durch stetigen Lärm und Ablenkung geprägt ist.
4. Intergenerationelle Gemeinschaft → Vielfalt leben durch viele Menschen unterschiedlichen Alters, Herkunft, sozialen Stands, etc.

Nun gut, so weit finde ich nichts, was man in traditionellen Gemeinden nicht auch finden könnte. Den Begriff „kontemplatives Gebet“ finde ich allerdings etwas bedenklich, da er aus dem Bereich des Mystizismus kommt.


Chris Seay – Ich habe den Glauben meiner Väter geerbt
Sein Großvater war ein Erweckungsprediger und Pastor einer wachsenden Gemeinde. Er selbst sieht sich als „Postrevivalist“ - man merkt hier schon, dass diese postmodernen Emerger die Vorsilbe „post“ mehr als lieben. Er sagt, dass eine Erweckung nur da möglich sei, wo es noch eine kleine Flamme des Glaubens gebe, die man wieder entfachen könne. Das habe sich inzwischen geändert. Er habe von seinem Opa und seinem Vater nur die allerwichtigsten „essentials“ des Glaubens übernommen und sei jetzt das, was nach der Erweckung käme, nämlich dann, wenn keine Erweckung mehr möglich sei. Für ihn ist der Pastor in diesem neuartigen Setting nur noch ein Geschichtenerzähler, weil Geschichten das Einzige seien, was die postmodernen Menschen ins Leben hinein sprechen könne. Er schreibt:
In the modern context the church ignored biblical narrative and complexity, instead reducing the gospel to a set of propositions („All you have to do is pray these statements, ask Jesus to come into your heart, and you're done“). But if that's all the gospel is, then all we need to do is wage a kind of air campaig, dropping propositions on individuals. As long as they buy the propositions, they're converted. We never really have to meet or know them. Unfortunately, that's exactly what a lot of evangelism has resembled in the modern era. And it doesn't work anymore. We don't talk about the whole of life because – you've heard it before - „the supermarket does the food, the politicians do politics, Hollywood does entertainment, and the church does the soul.“ We're left with a disembodied little chunk.“ (S. 80)
Streng genommen muss man sagen, dass das, was Seay hier kritisiert, noch nie funktioniert hat. Auf diese Weise ist es auch keine Kritik an der echten Evangelisation, die es schon immer gegeben hat.

Im Rest seines Berichtes geht Seay auf drei Arten des Denkens ein: Lineares Denken, zirkuläres Denken und netzähnliches Denken. Er schreibt dem Römerbrief das Erste zu, dem Buch Prediger das Zweite und dem Buch der Sprüche das Dritte. Seine Begründungen sind allerdings sehr weit an den Haaren herbeigezogen.


Chuck Smith, jr. - Aber kommen wir denn von hier nach dort?
Gut – ich muss zugeben, Chuck Smith hatte bei mir schon mit seiner Einleitung fast verspielt, in der er sich über den Predigtstil von Jonathan Edwards auf eine Weise lustig macht, die deutlich zeigt, dass er von jenem nicht mehr weiß als in dem kurzen Abschnitt über die große Erweckung in den Schulbüchern. Ich möchte Chuck Smith an dieser Stelle empfehlen, noch einmal über die Bücher zu gehen und zu sehen, was wir heute in der Postmoderne von Edwards lernen können. Das ist nicht gerade wenig.

Jedenfalls beschreibt Smith seinen früheren Predigtstil als manipulativ und immer negativ auf den Sünden der Zuhörer herumreitend – bis eines Tages John Wimber kam und ihn fragte, was er damit bezwecke. Von jenem Moment an war sein Ziel nur noch, dass die Zuhörer sich gut fühlen sollten. Nun, man kann sich trefflich darüber streiten, ob das wirklich besser ist oder ob er bloß auf der anderen Seite vom Pferd gefallen ist. Möge dies der Leser selbst entscheiden.

Auf jeden Fall begann er und seine Gemeinde daraufhin, sich mit der umliegenden Kultur zu beschäftigen und er stellte fest, dass seine Predigten bis dahin für jene unverständlich waren. Er sagt dazu etwas Wertvolles: „The challenge, as it's always been, is to get to know the dominant culture and to retool our church so that it can effectively be light and salt in a postmodern world.“ (S. 97)

Damit sagt er etwas Wichtiges. Was wir brauchen, ist das Wissen um die vielen Ideologien und Weltbilder, die herumgeistern. Wir brauchen die Fähigkeit, zu unterscheiden, was an einewm Weltbild stimmt und wo es Gottes Wort widerspricht und wie wir diesen Widerspruch so ausdrücken können, dass er verstanden wird.


Eine Schlacht um leere Worthülsen
Was mir immer wieder auffällt, ist, dass sich die Autoren dieser Geschichten nicht trauen, bestimmte Ausdrücke klar zu definieren. Es bleibt alles vage, undeutlich und unverbindlich. Jeder darf sich darunter vorstellen, was ihm behagt. Was ist genau das Evangelium? Es wird von Gospel, Good News, Salvation, Kingdom of God gesprochen, aber niemand definiert diese Ausdrücke. Es werden immerzu nur die „traditionellen“ Definitionen davon durch den Kakao gezogen, ohne eine tatsächlich befriedigende Antwort zu geben, was es denn nun sein soll.


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