Dienstag, 21. März 2017

Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit

Berger, Peter L., Luckmann, Thomas, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. Fischer Verlag Frankfurt a. M., 20. Aufl. 2004, Amazon-Link

Wie schreibt man über ein Buch, das viele wertvolle und zum Nachdenken anregende Gedanken enthält, während man der gesamten These des Buches diametral gegenüber steht? Kein einfaches Unterfangen, wie ich immer wieder feststellen muss. Vielleicht ist der beste Einstieg ins Thema mit einem Zitat von Neil Postman gefunden. Postman schreibt zu den Sozialwissenschaften: „Ich nenne die Forschungen dieser Leute Geschichtenerzählen, weil das Wort darauf hinweist, dass der Verfasser einer solchen Geschichte einer Reihe von menschlichen Ereignissen eine unverwechselbare Deutung gegeben hat, dass er diese Deutung durch vielfältige Beispiele erhärtet hat und dass seine Deutung nicht bewiesen oder widerlegt werden kann, sondern ihren Reiz aus der Kraft ihrer Sprache schöpft, aus der Tiefendimension ihrer Erklärungen, aus der Triftigkeit ihrer Beispiele und der Glaubwürdigkeit ihres Stoffes. […] Es gibt keine Prüfverfahren, um sie zu bestätigen oder zu falsifizieren. Es gibt keine Postulate oder Voraussetzungen, in denen sie verankert sind. Sie sind an eine Zeit und eine Konstellation gebunden und vor allem an die kulturellen Vorurteile des Forschers.“ (Neil Postman, Die Verweigerung der Hörigkeit, S. 25) Dieses Zitat bringt ziemlich deutlich auf den Punkt, wo das Buch von Berger und Luckmann einen blinden Fleck hat. Die Autoren sehen ihre Arbeit als eine Art von Wissenschaft wie sie die Biologie, Chemie oder Physik auch ist. Und im negativen Sinne gesehen haben sie damit sogar ein Stück weit recht. Auch die „harte“ Wissenschaft verkommt immer mehr zu einer subjektiven Suche nach Erklärungen für die Realität, um bestimmte Thesen zu bestätigen. Doch das weiter auszuführen würde an dieser Stelle zu weit führen.

Zu Beginn grenzen die Autoren ihre Aufgabe ein, und zwar, indem sie sich von der „absoluten“ Bedeutung von Wissen und Wirklichkeit distanzieren und die Bestimmung der Begriffe an die Philosophie abschieben. Sie wollen sich vor allem dem zuwenden, was der „Mann von der Straße“ unter Wissen und Wirklichkeit versteht. Dabei könne es verschiedene Arten von Wirklichkeit und Wissen geben: „Das 'Wissen' eines Kriminellen ist anders als das eines Kriminologen.“ (S. 3) Daraus wird eine andere Wirklichkeit für die beiden geschlussfolgert. Ein großes Fragezeichen muss man auch hinter diese Aussage setzen: „Theoretische Gedanken, 'Ideen', Weltanschauungen, sind so wichtig nicht in der Gesellschaft.“ (S. 16) Die gesamte These, die hinter dem Buch steht, lässt sich vielleicht an besten mit folgendem Zitat zusammenfassen: „Die anthropologischen Konstanten machen die sozio-kulturellen Schöpfungen des Menschen möglich und beschränken sie zugleich. Die jeweilige Eingenart, in der Menschenhaftigkeit sich ausprägt, wird umgekehrt aber bestimmt durch eben diese sozio-kulturellen Schöpfungen und gehört zu deren zahlreichen Varianten. So kann man zwar sagen: Der Mensch hat eine Natur. Treffender wäre jedoch: Der Mensch macht seine Natur – oder, noch einfacher: Der Mensch produziert sich selbst.“ (S. 51f)

Schade finde ich, dass sie ihren positivistischen Unterbau nicht begründen, sondern diese Aufgabe der Philosophie überlassen. Halten wir hier kurz inne. Für Berger und Luckmann gibt es außerhalb von uns eine objektive Realität, die jeder Mensch mit seinen Grenzen und Möglichkeiten entdecken, kennenlernen, sich zu eigen machen kann. Zugleich schafft aber jeder Mensch in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft auch wiederum Realität. Das Buch zeigt hier ein dialektisches Miteinander, wobei die Gesellschaft, der Einzelne, die Institutionen, und so weiter gemeinsam diese Realität formen und sich gegenseitig auch beeinflussen. Doch die Frage, warum sie von dieser objektiven Realität ausgehen (was ich natürlich begrüße), wird der Philosophie überlassen. Und dann müssen wir natürlich auch sehen, dass Berger und Luckmann die Menschheit auf sich selbst zurückwerfen. Sie gehen davon aus, dass Gott nicht existiert – und versuchen dadurch, eine gottlose Realität zu schaffen. Vielleicht ist das Misslingen dieses Versuchs mit ein Grund, weshalb die Autoren sich um diese grundlegende Arbeit der Fundamentierung drücken. Festzuhalten ist aber, dass die Dialektik von Einzelnem und Gesellschaft zu kurz greift. Vielmehr müsste man von einer Trialektik aus Gott, Einzelnem und Gesellschaft sprechen, welche in einem spannenden und mitunter – ausgelöst durch den Sündenfall – auch spannungsreichen Miteinander resultiert. Gott stellt den Einzelnen in die Gesellschaft, damit dieser in der Gesellschaft Gottes Willen ausführt – und der Einzelne wird durch diese Gesellschaft wieder geprägt und auf Gott zurückgeworfen. Weil Gott uns und unsere Umwelt geschaffen hat, dürfen wir positivistisch von einer objektiven und erfassbaren Realität ausgehen, immer im Wissen darum, dass es auch Versuchung, Verführung und Verirrung gibt. Ich würde dies als einen christlichen kritischen Realismus bezeichnen.

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf möchte ich nun auf einige Gedanken des Buches eingehen, die mich positiv herausgefordert haben, und die ich als zumindest teilweise sehr wertvoll empfinde. Nachfolgend ein paar Zitate, wenn nötig mit meinen Anmerkungen dazu.

Wenn das [das Auftauchen eines Problems] eintritt, macht die Alltagswelt zunächst Anstrengungen, den problematischen Teil in das, was unproblematisch ist, hereinzuholen.“ (S. 27) Vermutlich kennen wir das alle. Wenn wir feststellen, dass unser Computer keinen Zugriff aufs Internet hat, dann testen wir zuerst alle möglichen bisher bekannten Quellen eines Fehlers aus, bevor wir beim Service anrufen.

Sprache, ein System aus vokalen Zeichen, ist das wichtigste Zeichensystem der menschlichen Gesellschaft. Ihre Grundlage ist natürlich die dem menschlichen Organismus innewohnende Fähigkeit zu vokalem Ausdruck. Aber Sprache beginnt erst, wo der vokale Ausdruck vom unmittelbaren 'Hier und Jetzt' isolierter subjektiver Befindlichkeit ablösbar geworden ist.“ (S. 39)

Weil Sprache die Kraft hat, das 'Hier und Jetzt' zu transzendieren, überbrückt sie die verschiedenen Zonen der Alltagswelt und integriert sie zu einem sinnhaften Ganzen. Sie bewegt sich dabei in räumlichen, zeitlichen und gesellschaftlichen Dimensionen. Durch Sprache kann ich die Kluft zwischen der Zone meiner Handhabung und der des Anderen überbrücken. Ich kann die Sequenzen meiner Lebenszeit mit denen der Seinen abstimmen. Ich kann schließlich mit ihm über Individuen und Gruppen reden, mit denen wir keine Vis-à-vis-Interaktion haben. Weil Sprache das 'Hier und Jetzt' überspringen kann, ist sie fähig, eine Fülle von Phänomenen zu 'vergegenwärtigen', die räumlich, zeitlich und gesellschaftlich vom 'Hier und Jetzt' abwesend sind.“ (S. 41)

Sobald der einzelne Mensch über das Nacheinander seiner Erlebnisse nachdenkt, versucht er, ihren Sinn in einen biographischen Zusammenhang einzufügen.“ (S. 68)

Strategische Bedeutung für den Lebenslauf des Einzelnen hat die Legitimationsfunktion symbolischer Sinnwelten durch die 'Ortsbestimmung' des Todes. Die Erfahrung des Todes anderer Menschen und die daraus folgende Antizipation des eigenen Todes in der Phantasie ist für den Einzelnen die Grenzsituation par excellence. Dass der Tod auch die ärgste Bedrohung für die Gewissheit der Wirklichkeiten des Alltagslebens darstellt, braucht nicht eigens betont zu werden. Die Integration des Todes in die oberste Wirklichkeit des gesellschaftlichen Daseins ist deshalb für jede institutionale Ordnung von größter Wichtigkeit.“ (S. 108)

Zum Schluss noch interessante Zitate zur christlichen Theologie, die – mit notwendiger Vorsicht genossen – durchaus zum Nachdenken anregen können:

In der Geschichte war eine Irrlehre oft der erste Anstoß zur theoretischen Systematisierung symbolischer Sinnwelten. Die Ausbildung der christlichen Theologie als Folge häretischer Herausforderungen der 'offiziellen' Überlieferung ist ein Exempel dafür. Wie bei jeder Theorie erscheinen im Verlauf des Prozesses neue theoretische Möglichkeiten aus der Überlieferung selbst, die damit über ihre ursprüngliche Formulierung hinaus zu neuen Konzeptionen vordringt.“ (S. 115)

Wenn die Autoren in den nächsten zwei Zitaten von „Verwandlung“ sprechen, so ist damit gemeint, dass jemand aus einer „Realität“ in eine andere wechselt, also seinen Horizont erweitert und plötzlich die bisher angenommene Realität in Frage gestellt wird.

Ein 'Rezept' für erfolgreiche Verwandlungen muss sowohl gesellschaftliche als auch theoretische Bedingungen erfüllen, wobei die gesellschaftlichen selbstverständlich die Matrix für die theoretischen sind. Die wichtigste gesellschaftliche Bedingung ist das Vorhandensein einer überzeugenden Plausibilitätsstruktur, das heißt also einer gesellschaftlichen Grundlage, die das 'Laboratorium' für die Transformation sein kann. Diese Plausibilitätsstruktur muss dem Individuum durch signifikante Andere vermittelt werden, mit denen es zu einer tiefen Identifikation kommen muss. […] Die signifikanten Anderen sind die Führer in die neue Wirklichkeit.“ (S. 168)

Das historische Urbild der Verwandlung ist die religiöse Konversion. Unsere obigen Betrachtungen treffen auf sie zu, wenn es heißt: extra ecclesiam nulla salus [außerhalb der Kirche gibt es kein Heil]. Dabei interpretieren wir 'Heil' – mit angemessenen Verbeugungen vor den Theologen, die mit jenem Satz etwas anderes im Sinn hatten – als das erfolgreiche Zustandekommen der Konversion. […] Eine Konversion als Erlebnis bedeutet nicht allzu viel. Entscheidend ist, dass man dabei bleibt, dass man das Erlebnis ernst nimmt und sich den Sinn für seine Plausibilität erhält. Hier nun kommt die Gemeinde ins Spiel. Sie liefert die unerlässliche Plausibilitätsstruktur für die neue Wirklichkeit. Mit anderen Worten: Saulus mag in der Einsamkeit seiner religiösen Ekstase Paulus geworden sein. Paulus bleiben aber konnte er nur im Kreise der christlichen Gemeinde, die ihn als Paulus anerkannte und sein 'neues Sein', von dem er nun seine Identität herleitete, bestätigte.“ (S. 169)

Wie gesagt, mit viel Vorsicht zu genießen, aber auch mal darüber nachdenken, inwieweit die Aussagen innerhalb der biblischen Weltanschauung korrekt ist und was man für die Gemeinde davon lernen kann. Ich habe das Buch gerne gelesen und war erstaunt, dass es recht gut lesbar ist. Wer sich noch etwas mehr mit der Soziologie aus bibeltreuer Sicht befassen möchte, findet das Buch „Redeeming Sociology“ von Vern Sheridan Poythress hier als PDF kostenlos zum Download. Leider nur auf Englisch erhältlich.


Warum wir mit verschiedenem Maß messen müssen

Jeder von uns tut es. Unzählige Male jeden Tag. Wenn wir etwas nicht wissen, und eine Antwort brauchen, sind wir schon dabei. Und tun gut daran. Wir wissen, dass ein Lexikon in den meisten Fällen eine bessere Antwort liefern wird als ein Roman. Damit haben wir mit zweierlei Maß gemessen. Wir fragen zu einem Computerproblem lieber eine Person, die von Berufs wegen „etwas mit Computern macht“ als die ältere Nachbarin, die nur einen Fernseher hat, aber keinen PC. Und damit haben wir es wieder getan. Sehr zu Recht sogar. Oder wenn wir ein neues Gerät kaufen wollen, fragen wir bevorzugt Kunden, die dasselbe Gerät schon einmal gekauft haben. Oder lesen deren Produktrezensionen, statt irgendwen in der Straßenbahn per Zufallsprinzip auszuwählen und nach dem bestimmten Produkt zu fragen.

Peter L. Berger und Thomas Luckmann schreiben vom Unterschied zwischen der primären und der sekundären Sozialisation. Zur primären Sozialisation gehören die Dinge, die alle Menschen einer Gesellschaft lernen. Zum Beispiel lernen alle, was Essen ist und wozu es gut ist, denn wer das nicht lernt, wird verhungern. In unserer Gesellschaft lernen wohl die allermeisten Menschen, was ein Pferd ist. Dann gibt es aber auch noch eine zweite Art von Lerninhalten, wenn man sich spezialisiert. Einer wird Dachdecker und lernt viel über Gerüste, Ziegel und Dächer. Ein anderer wird Automechaniker. Für ihn ist das Wissen über Ziegel nicht so relevant wie für den Dachdecker. Das Erlernen des speziellen Wissens nennen sie sekundäre Sozialisation. Je mehr spezielles Wissen in einer Gesellschaft vorhanden ist, das nicht für jedermann gleichermaßen relevant ist, desto wichtiger ist es, mit verschiedenem Maß zu messen und unterscheiden zu können, bei wem man am ehesten die richtige Antwort bekommt.

Wir dürfen wissen, dass dies auch in der Bibel vorkommt. Jakobus schreibt: Werdet nicht in großer Zahl Lehrer, meine Brüder, da ihr wisst, dass wir ein strengeres Urteil empfangen werden! (Jak. 3,1) Jesus sagte: Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern. (Luk. 12,48b) Deshalb ist es auch wichtig, dass wir von jenen das volle Evangelium fordern, die darin leben und gelehrt sind. Gott hat uns Sein Wort gegeben, die Bibel. 1. Mose 1 bis Offenbarung 22 ist Gottes Wort und hat Gottes vollkommene Qualität und Autorität. Wo diese untergraben oder verwässert wird, müssen wir aufstehen und Klartext reden. Im selben Moment müssen wir das von einem Menschen, der auf einem anderen Gebiet spezialisiert ist, nicht erwarten. Vielmehr dürfen wir diesen Menschen zeigen, was Gottes Wort für deren Spezialgebiete zu sagen hat. Dies ist ein sehr spannendes Unterfangen, das äußerst gewinnbringend für alle ist. Es ist notwendig, die bibeltreue Theologie wieder auf den Platz zu bringen, der ihr gebührt. Sie ist die Wissenschaft, in Bezug auf welche alle übrigen Zweige der Wissenschaft Hilfswissenschaften sind.


Mittwoch, 15. März 2017

Das komponierte „Ich“

Kubsch, Ron, Das komponierte „Ich“, Geistliche Studien, 2017, 50S., Amazon-Link

Der Untertitel lautet „Identitätsfindung in der Postmoderne und das christliche Menschenbild“. Der Inhalt basiert auf zwei Vorträgen, die Ron Kubsch 2010 und 2011 gehalten hat. In der Einleitung geht es um die Frage nach dem Subjekt. Wer bin ich? Diese Frage ist in unserer Zeit sehr wichtig geworden. Lange Zeit war die Identität keine so große Frage. Sie wurde durch die Einbettung in die Familie, den Ort und die Kirche von außen vorgegeben. Durch die Industrialisierung und später die Globalisierung wurde das Leben in immer mehr Teile aufgespalten, und an jedem dieser Teile, wie Beruf, Gemeinde, Familie, Vereine, und so weiter, wurde (und wird) erwartet, dass jeder eine bestimmte Rolle spielt. So stellt sich halt schon immer mehr diese Frage: Wer bin ich? Die Persönlichkeit wird plötzlich als etwas „Flüssiges“ gesehen, was sich ständig verändern kann, und der Gestalter dieser Persönlichkeit ist das einzelne Subjekt.

Im zweiten Teil beschreibt Ron Kubsch „Postmoderne Identitätserfahrungen“. Hier schreibt er von einer „Bastel-Mentalität“, also dass Menschen anfangen, ihre Identität zu basteln und im Laufe der Jahre ständig überarbeiten. Er zitiert den Leiter des Berliner Jugendkultur-Archivs, welcher schreibt, dass junge Menschen immer wieder zwischen den verschiedenen Subkulturen wechseln. Zygmunt Bauman, einer der wichtigsten Soziologen der Postmoderne, spricht von einem „Nomadentum“, also dem ständigen Umherreisen zwischen verschiedenen Subkulturen und Identitäten. Es werde jegliche Festlegung bewusst vermieden, so Bauman.

Der dritte und letzte Teil behandelt Gottes Antwort auf diese Entbettung, die zugleich eine massive Unsicherheit mit sich bringt. Hier wird die Liebe des Autors zu den jungen Menschen ganz besonders deutlich sichtbar, zu welchen er spricht oder schreibt. Er bleibt nicht bei einer Beschreibung des Zustands, sondern zeigt auf, wie auch in der Bibel die Identität nicht nur eine fixe Sache ist, sondern formbar und viele Personen, die in der Bibel beschrieben werden, eine Identitätsentwicklung durchgemacht haben. „Gott gibt den Menschen Zeit. Und: Gott mutet Menschen Schwierigkeiten zu, um Identität zu entwickeln.“ (S. 36) Mit Psalm 139,14 – 16 entwickelt er Grundlinien einer Theologie der Identität: „Gegeben ist uns Identität durch unsere Herkunft. Jeder von uns ist ein wundervoller Gedanke Gottes. Zugleich sind wir auf Beziehung angelegt und entwickeln uns weiter. Das 'Ich' ist also keine ein für alle Mal versiegelte Größe, sondern bleibt beweglich.“ (S. 37) Den Abschluss macht ein Blick in das Leben und besonders das Buch „Bekenntnisse“ von Augustinus, welcher auch eine ganze Zeit lang auf der Suche nach der Identität war und diese Suche mit den Worten im Gebet zu Gott beenden konnte: „Unruhig ist mein Herz, bis es Ruhe findet in dir.“ (Zitiert auf S. 44)


Dienstag, 14. März 2017

Gott hört dich! - neuer Predigtband von Michael Freiburghaus

Freiburghaus, Michael, Gott hört dich!, Esras.net GmbH, 1. Aufl. 2017, 108S., Amazon-Link

Gebet ist das Einfachste und das Schwierigste zugleich, hörte ich vor einiger Zeit in einer Predigt. Und das stimmt. Einerseits ist es einfach, weil wir einfach zu Gott reden dürfen und das ist dann das Gebet. Zugleich stellt sich aber auch die Frage, was wir beten und wie wir beten sollen, also der Inhalt und unsere innere Haltung Gott gegenüber. Es ist kein Zufall, dass Jesu Jünger Ihn baten: Herr, lehre uns beten! Der Herr Jesus war und ist ein Meisterbeter. An Ihn kommt keiner ran. So ist es also enorm wertvoll, sich mit dem Gebet auseinanderzusetzen. Was ist Gebet? Was sollen wir beten? Wie sollen wir beten? Diese Fragen hat Michael Freiburghaus in einer Predigtserie beantwortet, welche mit einer detaillierten Auslegung des Vaterunsers beginnt, sich danach aber auch noch anderen Gebetsarten zuwendet, die wir in der Bibel finden. Besonders die Ausführungen zu den Rachepsalmen und was uns diese heute zu sagen haben, finde ich persönlich sehr bewegend und ermutigend. Unbedingte Leseempfehlung! 

Freitag, 10. März 2017

Mord am Kabarett

Die Unterhaltungsindustrie
hat hinterrücks und über Nacht
durch Komiker und Comedy
dem Kabarett den Tod gebracht.

Nicht nur, dass die Kabarettisten
so nach und nach sind ausgestorben,
nein, auch welche sie vermissten,
sind von der Unkunst nun verdorben.

Im Kabarett war'n Philosophen,
intellektuelle, tiefe Denker,
die uns're Welt vor dem Verdoofen
retten wollten. Doch zum Henker

ging die Kabarettiererei,
als die flachen Komödianten
ihr nicht nur legten gar ein Ei.
Vielmehr mit ihrer hirnverbrannten

Art, sich selbst für klug zu halten
und die Zuschauer für zu blöde,
zeigt, wie sie ihr Programm gestalten:
Selber denken ist doch öde!“

Hat denn einst der Kabarettist
mit Humor auf viele Weise,
die man heute schnell vergisst,
einfach denken gelehrt; und leise.

Doch laut muss nunmehr alles sein:
Schreiend bunt, durchdringend schrill.
Das Kabarett in seiner Pein
starb leis', allein und still:

Das Messer der Medien in der Brust,
die für uns gerne denken wollen
ist uns'rer Kultur ein arger Verlust;
Erinnerung ist bald verschollen.

Jonas Erne

(10.03.2017)

Montag, 6. März 2017

Wir amüsieren uns zu Tode. Zehn Zitate von Neil Postman

Postman, Neil, Wir amüsieren uns zu Tode, S. Fischer Verlag Frankfurt am Main, 7. Aufl. 1987. Amazon-Link

Man sollte nicht vergessen, dass dieses Buch so alt ist wie ich – Jahrgang 1985. Somit muss es sich um einen guten Jahrgang handeln, denn das Buch ist mindestens ebenso aktuell geblieben. Hier zehn besonders deutliche Zitate.

"Orwell fürchtete diejenigen, die Bücher verbieten. Huxley fürchtete, dass es eines Tages keinen Grund mehr geben könnte, Bücher zu verbieten, weil keiner mehr da ist, der Bücher lesen will. Orwell fürchtete jene, die uns Informationen vorenthalten. Huxley fürchtete jene, die uns mit Informationen so sehr überhäufen, dass wir uns vor ihnen nur in Passivität und Selbstbespiegelung retten können. Orwell befürchtete, dass die Wahrheit vor uns verheimlicht werden könnte. Huxley fürchtete, dass die Wahrheit in einem Meer von Belanglosigkeiten untergehen könnte." (S. 7f)

"Halten wir heute nach einem Sinnbild für den Charakter und die Sehnsüchte unserer Nation Ausschau, so blicken wir nach Las Vegas, der Stadt in der Wüste von Nevada - ihr Wahrzeichen ist die zehn Meter hohe Papp-Attrappe eines Spielautomaten und eines Chorus-Girls. Denn Las Vegas hat sich ganz und gar der Idee der Unterhaltung verschrieben und verkörpert damit den Geist einer Kultur, in der der gesamte öffentliche Diskurs immer mehr die Form des Entertainments annimmt. Weitgehend ohne Protest und ohne dass die Öffentlichkeit auch nur Notiz davon genommen hätte, haben sich Politik, Religion, Nachrichten, Sport, Erziehungswesen und Wirtschaft in kongeniale Anhängsel des Showbusiness verwandelt. Wir sind im Zuge dieser Entwicklung zu einem Volk geworden, das im Begriffe ist, sich zu Tode zu amüsieren." (S. 12)

"Gegen das 'dumme Zeug', das im Fernsehen gesendet wird, habe ich nichts, es ist das beste am Fernsehen, und niemand und nichts wird dadurch ernstlich geschädigt. Schließlich messen wir eine Kultur nicht an den unverhüllten Trivialitäten, die sie hervorbringt, sondern an dem, was sie für bedeutsam erklärt. Hier liegt unser Problem, denn am trivialsten und damit am gefährlichsten ist das Fernsehen, wenn es sich anspruchsvoll gibt und sich als Vermittler bedeutsamer kultureller Botschaften präsentiert." (S. 26)

"Jedes Medium, gleichgültig wie beschränkt der Kontext war, in dem es ursprünglich verwendet wurde, hat die Kraft, sich über diese Beschränkung hinweg in neue, unvermutete Kontexte auszudehnen. Weil es uns bei der Organisierung unseres Denkens und der Integration unserer Erfahrungen in einer ganz bestimmten Weise lenkt, prägt es unser Bewusstsein und unsere gesellschaftlichen Institutionen auf mannigfaltige Weise. Zuweilen beeinflusst es unsere Vorstellungen von Frömmigkeit, Güte oder Schönheit. Und immer beeinflusst es die Art und Weise, wie wir unsere Vorstellungen von Wahrheit definieren und mit ihnen umgehen." (S. 28)

"Das Entertainment ist die Superideologie des gesamten Fernsehdiskurses. Gleichgültig, was gezeigt wird und aus welchem Blickwinkel - die Grundannahme ist stets, dass es zu unserer Unterhaltung und unserem Vergnügen gezeigt wird. Deshalb fordern uns die Sprecher sogar in den Nachrichtensendungen, die uns täglich Bruchstücke von Tragik und Barbarei ins Haus liefern, dazu auf, 'morgen wieder dabeizusein'. Wozu eigentlich? Man sollte meinen, dass einige Munuten, angefüllt mit Mord und Unheil, Stoff genug für einen Monat schlafloser Nächte bieten. Aber wir nehmen die Einladung des Nachrichtensprechers an, weil wir wissen, dass wir die 'Nachrichten' nicht ernstzunehmen brauchen, dass sie sozusagen nur zum Vergnügen da sind." (S. 110)

"Mit 'Und jetzt...' wird in den Nachrichtensendungen von Radio und Fernsehen im allgemeinen gezeigt, dass das, was man soeben gehört hat, keinerlei Relevanz für das besitzt, was man als nächstes hören oder sehen wird, und möglicherweise für alles, was man in Zukunft einmal hören oder sehen wird, auch nicht. Der Ausdruck 'Und jetzt...' umfasst das Eingeständnis, dass die von den elektronischen Medien entworfene Welt keine Ordnung und keine Bedeutung hat und nicht ernst genommen zu werden braucht. Kein Mord ist so brutal, kein Erdbeben so verheerend, kein politischer Fehler so kostspielig, kein Torverhältnis so niederschmetternd, kein Wetterbericht so bedrohlich, dass sie vom Nachrichtensprecher mit seinem 'Und jetzt...' nicht aus unserem Bewusstsein gelöscht werden kann." (S. 123f)

"Wir stehen hier vor der Tatsache, dass das Fernsehen die Bedeutung von 'Informiertsein' verändert, indem es eine neue Spielart von Information hervorbringt, die man besser als Desinformation bezeichnen sollte. [...] Desinformation ist nicht dasselbe wie Falschinformation. Desinformation bedeutet irreführende Information - unangebrachte, irrelevante, bruchstückhafte oder oberflächliche Information -, Information, die vortäuscht, man wisse etwas, während sie einen in Wirklichkeit vom Wissen weglockt." (S. 133)

"Wie früher die Druckpresse hat heute das Fernsehen die Macht erlangt, zu bestimmen, in welcher Form Nachrichten übermittelt werden sollen, und es bestimmt auch, wie wir darauf reagieren sollen. Indem das Fernsehen die Nachrichten in Form einer Variétéveranstaltung präsentiert, regt es andere Medien zur Nachahmung an, so dass die gesamte Informationsumwelt das Fernsehen widerzuspiegeln beginnt." (S. 138)

"Die Fernsehwerbung hat dazu beigetragen, dass die Wirtschaft auf die Steigerung des Eigenwertes ihrer Produkte heute weniger bedacht ist als auf die Steigerung des Selbstwertgefühls ihrer potentiellen Kunden, mit anderen Worten, sie hat sich eine Pseudo-Therapie zur Aufgabe gemacht. Der Verbraucher ist zum Patienten geworden, dem man mit Psycho-Dramen Sicherheit vermittelt." (S. 158)

"Wenn ein Volk sich von Trivialitäten ablenken lässt, wenn das kulturelle Leben neu bestimmt wird als eine endlose Reihe von Unterhaltungsveranstaltungen, als gigantischer Amüsierbetrieb, wenn der öffentliche Diskurs zum unterschiedslosen Geplapper wird, kurz, wenn aus Bürgern Zuschauer werden und ihre öffentlichen Angelegenheiten zur Variété-Nummer herunterkommen, dann ist die Nation in Gefahr - das Absterben der Kultur wird zur realen Bedrohung." (S. 190)


Freitag, 3. März 2017

Fastenzeit: 40 Tage Dankbarkeit

Fastenzeit klingt so nach Verzicht, Minimal-Lifestyle und Selbstkasteiung. Ich habe schon einige Jahre Fastenzeit mit allen möglichen Verzichten hinter mir – von Fleisch über Haribo bis zu Computer und Kaffee. Dieses Jahr möchte ich was Neues probieren. Ich will auf Undankbarkeit verzichten lernen. Anders gesagt: Eine neue Dimension der Dankbarkeit erreichen. Es ist eine Sache, jeden Tag fürs schöne Wetter und das leckere Essen zu danken, es gibt noch viel mehr. Und um dieses „viel mehr“ geht es mir.

Als ich vor ein paar Jahren eine Predigt vorbereitete, sprach Gott plötzlich zu mir und fragte: Wenn du morgen aufwachen würdest und dann wären nur noch die Dinge da, für die du Mir gedankt hast, was wäre dann noch da? Hmm, gute Frage. Das hat mich dann ziemlich beschäftigt, diese Frage. Auch das habe ich nun im Hinterkopf, da ich das schreibe. Und nun werde ich eine Liste anfangen, wofür ich gerade dankbar bin. Mal sehen, wie viel da in 40 Tagen zusammen kommt. Unter dem Hashtag #40tagedankbarkeit sammle ich diese auch auf Twitter. Wer möchte, darf gerne mitmachen und unter demselben Hashtag danken. Die Liste (Link) wird natürlich immer mal wieder geupdatet – wie regelmäßig weiß ich aber nicht, da ich mir trotz des Verzichtverzichtes (Verzicht auf den Verzicht) mehr Zeit offline nehmen werde.